Zentrale Gedenkfeier am Platz der 1938 zerstörten Neuen Synagoge in Detmold

Gedanken zum 9. November 2023

von Bettina Hanke-Postma
Beauftragte für den Jüdisch-Christlichen Dialog in der Lippischen Landeskirche

Zu Beginn meiner Rede möchte ich Sie in Gedanken an einen Pfingsttag entführen, den 19. Mai 1907. Zwei Tage zuvor war hier in der Lortzingstraße 3 die neue Synagoge eingeweiht worden. Auf dem Festbankett am Pfingstsonntag versicherten sich die Redner der gegenseitigen Achtung, man stieß auf gutes Auskommen miteinander an. Die politische, gesellschaftliche und religiöse Elite Lippes war versammelt. Der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, der Kaufmann Alex Meyer, fand folgende Worte:

Ich zitiere aus einem Aufsatz von Andreas Ruppert, dem ehemaligen Leiter des Stadtarchives Detmold zur Geschichte dieses Grundstückes Zeitschrift für Lippische Geschichte „Rosenland“ Nr. 5, 2007:

"Wie wir alle Glieder unseres gemeinsamen schönen deutschen Vaterlandes sind, wie wir alle in unserem persönlichen und geschäftlichen Leben aufeinander angewiesen sind, miteinander leben müssen, also ist auch das Verhältnis der verschiedenen Konfessionen zueinander in unserer geliebten Residenzstadt Detmold allezeit ein gutes und herzliches gewesen. Die einzelnen Bekenntnisse haben in guten und bösen Tagen treu zueinander gehalten, haben sich in Zeiten der Not einander zu fördern und helfen verstanden, haben gern und freudig für einander Opfer gebracht.

Wir empfinden das besonders dankbar und wissen dieses gute Verhältnis zu würdigen. Und wenn ich heute etwas hoffe, ein Wunsch meine Seele bewegt, so ist es der, daß dieses gute und freundliche Verhältnis allezeit so bleiben möchte, daß niemals der Tag kommen möge, wo Mißgunst und Neid und Abneigung etwas anderes schaffen, und an die Stelle des Friedens den Unfrieden setzen…

Hier wird der Friede eines toleranten Miteinanders gefeiert und er hätte sich von diesem Ort auch ausbreiten können… doch es kam anders.

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg führte, wie wir alles wissen, zu gewaltigen Umbrüchen in der Gesellschaft, Wirtschaft und im Staat. Es kam zu einer radikalen Zuspitzung, in deren Verlauf die Worte von Herrn Meyer zunichte gemacht wurden.

Vor 100 Jahren hatten es völkisch-nationale Kräfte leicht, griffige Erklärungen anzubieten: Sozialdemokraten und Juden seien schuld an der Niederlage, weil sie den kämpfenden und unbesiegten Soldaten auf dem Schlachtfeld in den Rücken gefallen seien.

Heute vor 100 Jahren versuchte Hitler mit einem Putsch in München seine Partei an die Macht in Bayern zu bringen – er scheiterte und wurde von vielen belächelt. Doch die Verharmlosung führte nicht zu einem Untergang des Gedankengutes der NSDAP… im Gegenteil.

In Verbindung mit traditionellen antisemitischen Denkmustern wurde das politische Klima auch in Lippe nach und nach immer giftiger. Radikale Denker gab es auch in Lippe und antisemitische Hetze zeigte Folgen, zum Beispiel für den jüdischen Lehrer Moritz Rülf. Es kam sogar schon im März 1920 und im Oktober 1923 zu Übergriffen auf die neue Synagoge. Sie wurde mit Hakenkreuzen beschmiert. Noch gab es Stimmen, die sich den Übergriffen entgegenstellten, doch mit den Wahlsiegen der NSDAP bei der Kommunalwahl 1932 in Detmold und der Lippischen Landtagswahl Anfang 1933 änderte sich dies.

Die Lügen vom angeblichen „Erbfeind Juda“, der die Auslöschung der Arier plane und die Weltherrschaft anstrebe, dessen Blutdurst naturgegeben unstillbar sei. Diese und ähnliche Gedanken waren so tief in den Köpfen und Herzen verankert, dass es normal wurde, jüdische Menschen zu verachten. Sie wurden ausgegrenzt und immer mehr bedrängt. Etliche wanderten aus und die Zahlen der Gemeindemitglieder gingen zurück.

Das Jahr 1938 stellte eine Zäsur dar. Jüdische Geschäfte wurden angegriffen, Friedhöfe und Synagogen zerstört. Die Lage eskalierte und der Druck auf die politische Führung in Lippe stieg auch von unten. Herr Ruppert berichtet in dem vorhin genannten Aufsatz von Karl Nüse, einem Dichter, der den Bürgermeister Detmolds, den SS-Obersturmführer Hans Keller im September 1938 in einem mehrseitigen Hetzbrief aufforderte, die Synagoge abzureißen.

Man brauchte keinen Befehl von oben… die antisemitischen Gedanken waren bereits zu Plänen und Handlungsvorbereitungen geworden. Am 2. November richtete der stellvertretende Bürgermeister eine Anfrage an die Gauleitung in Münster, wie mit überflüssigen Synagogen zu verfahren sei.

Dann kam der 7. November: Herschel Grünspan, ein in der Weimarer Republik geborener und aufgewachsener polnischer Staatsbürger jüdischen Glaubens, verübte in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Dem NS-Staat diente diese Tat als Vorwand, um unter dem Motto „Rache für den Mord an vom Rath“ schon lange beabsichtigte Pogrome gegen die Juden in Deutschland durchzuführen.

In der Nacht zum 10. November 1938, der „Reispogromnacht“, wurde hier in der Lortzingstraße unter der Leitung von Adolf Wedderwille und dem Ortsgruppenleiter der NSDAP Hugo Preyer vermutlich durch Landessbranddirektor Rober Günther gegen 2 Uhr in der Nacht ein Feuer an der Synagoge gelegt.

Die Feuerwehr verhinderte lediglich ein Übergreifen der Flammen auf die benachbarten Bauwerke. Die Familie des Synagogendieners Louis Flatow wurde gewalttätig aus ihrer Wohnung geholt. Er wurde später ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

Von dem Gebäude bleiben nur noch Ruinen übrig.

85 Jahre ist das her.

Heute müssen wir uns mit einem neu erstarkenden Antisemitismus auseinandersetzen. Deshalb stehen wir hier, öffnen die Augen und bleiben nicht stumm.

Am 7. Oktober haben Terroristen der Hamas israelische Bürgerinnen und Bürger in ihrem Land überfallen. Es war ein antisemitischer Pogrom, der den Freudentag Simchat Tora zu einem Trauertag gemacht hat. Unbändiger Hass brach hervor: der schreckliche Wille, jüdisches Leben zu vernichten. Die Täter der Hamas sind keine Freiheitskämpfer, sie sind Geiselnehmer. Sie halten die gekidnappten Jüdinnen und Juden ebenso gefangen wie ihre eigene Bevölkerung in Gaza.

Seitdem herrscht Krieg zwischen der Hamas im Gazastreifen und dem israelischen Staat und dieser Krieg hat Folgen: Eben auch die, dass Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland nicht mehr sicher sind… wieder als „Juden“ beschimpft werden und verstärkten Polizeischutz brauchen. Wieder sind Synagogen gefährdet, Wohnungen von Jüdinnen und Juden werden beschmiert, Israelflaggen zerstört und jüdische Kinder haben Angst in die Schule zu gehen.

Dabei hatten wir nicht einen Konsens in unserer Gesellschaft, dass Jüdinnen und Juden frei bei uns leben können, so wie Menschen aller Religionen? Dass sie nie wieder Angst haben müssen?

Die Angst ist zurück und das ist unerträglich. Antisemitismus war nie ganz verschwunden… jetzt zeigt er sich wieder deutlich. Er begegnet mir in lapidar dahin geredeten Sätzen wie folgendem: „Die Juden sind ja selber schuld. Wenn man ein Volk einsperrt, muss man sich nicht wundern, wenn es sich wehrt.“

„Die Juden“… wen meint die Sprecherin? Die Menschen jüdischen Glaubens weltweit? Jüdische Menschen hier bei uns? Oder in Israel? Vermutlich ist die derzeitige israelische Regierung gemeint. Wenn verallgemeinert von „den Juden“ die Rede ist, sollte man im Blick oder besser gesagt im Ohr haben, welches Arsenal von Ressentiments dann mitschwingen kann. Ganz abgesehen davon, dass jede Generalisierung in dieser Form eine Herabwürdigung bedeutet.

Ausgangspunkt des Satzes ist gewiss die Klage über die schwierige Situation der Palästinenser: ihre Unfreiheit, die materielle, rechtliche und seelische Not, ihre Perspektivlosigkeit, ihre innere Gespaltenheit. Diese katastrophale Misere der Palästinenser verlangt dringend nach einer politischen Lösung und zeugt gleichermaßen vom Versagen internationaler, israelischer und arabischer Politik. Worte wie: „die Juden“ sind in diesem Kontext jedoch fehl am Platz.

Doch solche lapidar dahingesagten Sätze sind es nicht allein, die auf zunehmenden Antisemitismus hindeuten. Wenn Hamas Kämpfer, die mordend Menschen überfallen, bei Demonstrationen hier bei uns in Deutschland als Freiheitskämpfer bejubelt werden, wird deutlich, dass es Anknüpfungspunkte für tiefen Hass auf Jüdinnen und Juden mitten unter uns gibt … und das ist unerträglich.

Gewiss ist die Politik des Staates Israel zu kritisieren. Gewiss muss immer wieder betont werden, dass es bei den Kampfhandlungen im Gazastreifen nicht um einen Rachefeldzug gehen darf und dass die Bevölkerung leidet. Krieg kennt nur Verlierer. Was auch immer geschieht, Antisemitismus kann damit nicht gerechtfertigt werden. Der Staat Israel wird zu Recht darauf hingewiesen, sich an das Völkerrecht zu halten. Macht man das auch mit palästinensischen Gruppen? Haben sie das Recht, mordend in ein Fest einzufallen? Geiseln zu nehmen? Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Es gibt Kräfte im Nahen Osten mit großen politischen Unterstützern, die den israelischen Staat auslöschen wollen.

Ich bin dankbar, dass sich alle Politikerinnen und Politiker im deutschen Bundestag darin einig sind, dass das Existenzrecht Israels unverhandelbar ist!

Als Vertreterin einer christlichen Kirche bekenne ich selbstkritisch: „Antisemitismus hat seine Wurzeln nicht bei den anderen. Er blüht nicht nur in kleinen extremen Gruppen. Er kommt aus unserer christlichen Geschichte, er keimt in unserer Mitte. Antisemiten sind auch unter Kirchenmitgliedern.“ (Zitat Anette Kurschus, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche, 22.10.2023)

Wir dachten wir hätten einen Konsens: Nie wieder Hass auf Juden… Wir - und ich schließe mich ausdrücklich mit ein - haben das nicht ernst genug genommen, dass es diesen Hass mitten unter uns gibt. Ich dachte, ich hätte zu dem Thema schon genug gesagt, aber das scheint nicht der Fall zu sein.

Anette Kurschus betonte am 22. Oktober: „Es gibt kein Vertun: Massenmord ist Gottlosigkeit! Antisemitismus ist Gotteslästerung! Es gibt keine Rechtfertigung für Judenhass. Und jeder Versuch, das Massaker vom 7. Oktober zu relativieren, ist Antisemitismus. Jedes „Ja, aber“ verharmlost.“

Und genauso wie wir uns dem Hass gegenüber Jüdinnen und Juden entgegenstellen, werden wir dies auch gegenüber dem antimuslimischen Ressentiment tun.

Gott ist ein Gott des Lebens und wer das Leben eines Menschen - egal welchen Glaubens - hasst oder vernichtet, versündigt sich an Gott.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Ich bitte Sie, hören Sie hin, wenn gegen Jüdinnen und Juden oder Musliminnen und Muslime gehetzt wird! Hören Sie hin und fragen Sie nach! Sagen Sie: Nein, so nicht in meiner Gegenwart! Nicht in unserem Land! Rassismus zerstört unsere Gesellschaft.

Hier an diesem Ort halten wir das fest: Keine Chance für Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz!

 

Es gilt das gesprochene Wort

 

Vortrag als PDF

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